Mit «Orte schichten» ist eine Serie von Lithographien Irène Wydlers aus dem Jahr 2005 übertitelt: dreizehn ungefähr A4-grosse Blätter, in denen unterschiedliche Stationen und Aspekte ihres Schaffens aufscheinen – zugleich Formvokabular vorwegnehmend, das erst Jahre später breitere Anwendung findet. Da sind Bildräume erschliessende Strichelungen und Schraffen; frei atmende Kreidelinien, die zu Faltungen, zu aufgefächerten Gebäude-Anmutungen führen und urbanen Raum andeuten; mit leichtem Schwung zum Tanzen gebrachte Linienbögen, die an Schiffs- und Luftschiffformen erinnern. Schliesslich, auf Neues ausgreifend, die flächigen Pinselspuren, die lose hingetuschten Flecken, aus denen Pflanzenformen, landschaftliche Elemente oder schlicht Geometrisches entstehen. Diese netzartig «geschichteten» Formklänge und Linienmelodien verbinden sich zu einer vielstimmigen Partitur, gewoben aus bildnerischen «Orten».
Repetieren, Auffächern, kreisend Entfalten – in solchen ‘bildnerischen Redeweisen der Vielfalt’ findet und erzählt Irène Wydler immer neue Bilder und Bilderreigen. So auch im «Melia-fries», wo in vier horizontal angeordneten Holzschnitten ein geisterhafter Fluss erscheint, in dem wunderbar leise angedeutete Hausformen sich spiegeln oder schwimmen.
In den Tuschezeichnungen von 2016 wird, was sich in der Serie «Orte schichten» anbahnte, Gegenwart: im Aufeinandertreffenlassen von gezeichneter Linie und gemalter Flächenform; in einer Art Dialog, wie Irène Wydler betont.
Vielleicht lebt in der dem unmittelbar lebendigen Moment verpflichteten Aufmerksamkeit noch immer etwas vom Aufbruchsgeist der einst nonkonformistischen Modelluniversität Vincennes, die die Künstlerin in jüngeren Jahren besucht hat.